Die Diskussion des Thüringer Innenministers Holger Poppenhäger über die geplante Thüringer Gebietsreform mit Weimarer Bürgern am 22.3.2016 war in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Die einleitenden Erläuterungen des Ministers zu den Plänen ließen erkennen, dass aus seiner Sicht nur noch Umsetzungsfragen zur Diskussion stehen. Man habe ja mit jahrelangen Diskussionen viel Zeit verloren, nun müsse endlich die verschleppte Reform umgesetzt werden. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung mit stetig abnehmender Bevölkerung könne sich Thüringen so viele Kommunen und Landkreise einfach nicht mehr leisten und müsse daher noch in dieser Legislaturperiode Mindestgrößen von Gemeinden und Landkreisen - auch gegen deren Widerstand - durchsetzen. Die Thüringer Finanzministerin, Heike Taubert, forderte in ihrem Diskussionsbeitrag gar eine Verdopplung der vom Innenminister zuvor genannten Mindestgröße einer Gemeinde in Thüringen. Der Oppositionsführer im Thüringer Landtag, Mike Mohring, kritisierte, dass die Landesregierung das Pferd von hinten aufzäume: die Funktional- und Verwaltungsreform, die zuerst kommen müsste, wenn am Ende wirklich Kosten vermieden werden sollen, werde verschoben.
Der Wirtschaftsvertreter auf dem Podium, Holger Bruhn, Vizepräsident des Verbands der Wirtschaft Thüringens, stellte grundsätzlich den Nutzen der geplanten Gebietsreform für die Thüringer Wirtschaft und damit auch für die Bürger infrage. Wichtiger als die rasche Umsetzung sei, dass die richtigen Dinge angegangen werden. Die Landesregierung habe bisher nicht mit der Thüringer Wirtschaft gesprochen, welche Verbesserungen denn durch die Gebietsreform konkret erzielt werden sollen, um Thüringen als Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähiger zu machen. Dazu seien andere Themen wichtiger als die Frage der Größe und des Zuschnitts der Kommunen, etwa: wie soll eine moderne Verwaltung 4.0 als Partner der sich entwickelnden Industrie 4.0 aussehen? Zu befürchten sei, dass Politik und Verwaltung sich für die nächsten Jahre überwiegend mit sich selbst beschäftigen, statt die Zukunftsthemen anzugehen. Aus dem Publikum machte Thomas Erdmann, Kreishandwerksmeister Weimar-Sömmerda, darauf aufmerksam, dass durch die Gebietsreform auch gewachsene ehrenamtliche Strukturen zerstört werden, z.B. bei den Handwerkerinnungen, die vielfältige hoheitliche Aufgaben ehrenamtlich wahrnehmen.
Auf meine direkte Frage als Weimarer Bürger und Unternehmer an Herrn Poppenhäger, welche Ziele denn konkret mit der Gebietsreform im Interesse der Thüringer Wirtschaft und Bürger erreicht werden sollen, antwortete der Innenminister, dass man diese Frage nur sehr abstrakt beantworten könne: durch die Reform sollen die Gemeinden und Landkreise ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge effizienter erfüllen. Dazu ist anzumerken: Ziele, die nur abstrakt formuliert werden, lassen sich grundsätzlich nicht erreichen, ihr Verfehlen ist nicht nachweisbar und ein Erfolg nicht messbar.
Abstrakte Zahlenspiele als Begründung für Reformen bedeuten im Kern den Verzicht auf eine Politik im Sinne von Zukunftsgestaltung zum Wohle des Landes und seiner Bürger. Die Politik sollte sich jedoch nicht mit einer schicksalhaften demographischen Entwicklung der Abwanderung und des Fachkräftemangels abfinden, sondern das Potenzial Thüringens als Wirtschaftsstandort und Kulturland dynamisch entwickeln. Der Thüringer Staatsmann Johan Wolfgang von Goethe hat dies in schwierigen Umbruchzeiten und bei knappen Kassen vorgemacht. Bei der Zielformulierung sollen die zentralen kommunalpolitischen Themen: Bildung, Arbeit, Gesundheit, Energie, Sicherheit und Mobilität im Focus stehen und weniger die Auseinandersetzung mit gemeindlichen Strukturfragen.
Die Erfahrungen anderer Bundesländer zeigen auch, dass allgemein formulierte Effizienzverbesserungen, mit denen dortige Kommunalreformen begründet wurden, in der Regel bei der Umsetzung nicht erreicht werden konnten. Größer heißt eben nicht zwangsläufig effizienter. Im digitalen Zeitalter sollten zunächst die Möglichkeiten der interkommunalen Kooperation genutzt werden. Hier liegt der Schlüssel für mehr Effizienz und eine bessere Servicequalität. Dazu brauchen wir eine Optimierung der Verwaltungsprozesse, die sich von klaren Zielen und zielorientierten Kennziffern leiten lässt. Und wir brauchen ein Bündnis der Politik mit engagierten Unternehmen und Bürgern, die sich für ihre Kommune einsetzen.
Dieses Engagement wird jedoch durch eine Politik infrage gestellt, die die Interessen der Bürger und deren Identifikation mit ihrer Kommune nicht achtet. Um die Axt an diese Wurzeln des Bürgerengagements durch staatliche Zwangsordnung anzulegen, müsste man schon sehr wichtige konkrete Allgemeinwohlziele als Begründung nennen. Da diese bisher nicht formuliert wurden, gilt: In funktionierende Kommunen sollte nicht einseitig durch das Land eingegriffen werden, denn sie sind der Ort des bürgerschaftlichen Engagements. Es gibt viele Möglichkeiten interkommunaler Kooperation, durch die Effizienzziele auch ohne Zusammenlegung von Kommunen erreicht werden können. Der Plan zur Gebietsreform in der vorliegenden Form atmet nicht den Geist der Kooperation sondern der obrigkeitsstaatlichen Machtausübung.
Angesichts der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen für Thüringen und den sich daraus ergebenden Prioritäten, aber auch angesichts der Chancen der digitalen Revolution für eine Modernisierung der Verwaltung, sollte die Landesregierung überprüfen, ob die Durchsetzung der geplanten Gebietsreform gegen den Widerstand vieler Bürger und ohne ausreichende Beteiligung der Wirtschaft dem Land Thüringen und seinen Bürgern wirklich nützt. Es war zu erwarten, dass die Rechtpopulisten versuchen, auch diese nachvollziehbaren Proteste der Bürger für ihre Zwecke zu nutzen. Eine bürgernahe und zugleich in demokratischen Prinzipien verwurzelte Landespolitik liefert keine Steilvorlagen an Rechtspopulisten. Vielleicht brauchen wir statt einer Reform von oben eher einen offenen Dialog der Thüringer Landespolitik mit den Thüringer Kommunen, der Wirtschaft und Vertretern der Zivilgesellschaft: wie die Zukunft des Landes - auf der Grundlage guter Beispiele Thüringer Gemeinden und Landkreise sowie gut begründeter Zukunftsinitiativen der Landesregierung – gemeinsam nachhaltig gestaltet werden kann.